Brief an unseren Freunde

Februar 2015

Mit offenen Augen leben

Liebe Freunde,
Seit einem halben Jahr habe ich Ihnen nicht mehr geschrieben. Die Tage, Wochen und Monate sind ins Land gezogen und über den Alltag gibt es nicht viel zu sagen. Neben der üblichen, alltäglichen Praxis unseres klösterlichen Lebens haben wir uns der Ausbildung der jungen Brüder gewidmet, haben sie unterstützt und ermutigt. Da der Druck einige Zeit in Anspruch nimmt, wird, wenn Sie diese Zeilen lesen, bereits ein guter Monat vergangen sein, seit ich sie verfasst habe. Nach dem schändlichen Attentat in Frankreich beruhigen sich die Gemüter allmählich wieder. Nachdem der Schock abgeklungen war, meldeten sich auch christliche Stimmen mit gesundem Menschenverstand zu Wort. Wie denken die Mönche darüber? In Sept-Fons, wo ich zuletzt im vergangenen August anlässlich der Diakonweihe von Bruder Daniel gewesen bin, sowie in Nový Dvůr, versuchen wir zu verstehen und zu reagieren. Wie immer, wenn sich ein Drama ereignet, sind einige versucht, sich zu sagen: „Das ist nicht schlimm!“ und andere sagen: „Das ist nicht wahr!“ Es besteht die Gefahr, in einen Zustand der Unbekümmertheit zu verfallen oder der Angst das Feld zu überlassen. Im vergangenen Jahrhundert sind wir mehrfach in diese Falle getappt.

Wir wissen, dass nichts von beidem eine echte Lösung ist. Der Heilige Benedikt, der im Zeitalter der Völkerwanderung lebte, als die Barbaren Rom belagerten, erwähnt nichts davon in der Regel. Ein Mönch interessiert sich durchaus für die Wirklichkeit, die ihn umgibt. Doch aus Zurückhaltung wird er sich nicht in Gewässer begeben, die dem klösterlichen Leben fremd sind. Und hierzu steht eine implizite Überzeugung, die sich durch die Regel zieht, keineswegs im Widerspruch: Der beste Weg, um auf eine höhere, augenscheinlich unerreichbare Wirklichkeit einzuwirken, besteht darin, eine persönliche, bescheidene Haltung im Alltag einzunehmen, die einen Bezug zur konkreten Wirklichkeit hat. Der Heilige Benedikt war der Überzeugung, dass alles miteinander verknüpft ist, dass aus dem Fundament verdrehter Verhaltensweisen (der Heilige Bernhard hätte sie vielleicht als verbogen bezeichnet) keine fruchtbare geistige Haltung erwachsen kann, ob es sich um geistiges Leben, seelisches Gleichgewicht, soziale Gerechtigkeit oder mit anderen Worten um Aufmerksamkeit gegenüber dem Nächsten handelt. Sofern ein Mensch keine Persönlichkeit des öffentlichen, religiösen oder politischen Lebens ist und dort eine Führungsrolle einnimmt, hat er keine anderen Mittel, zum Wohl seiner Nächsten zu handeln, als seine persönlichen Mittel. Durch diese Begrenzung auf sein Lebensumfeld erscheint seine Möglichkeit der Einflussnahme auf den ersten Blick als verschwindend gering. Wer jetzt aber denkt, dass diese Art des Handelns keine Wirkung entfaltet, der irrt gewaltig. Die Dissidenten der totalitären Regime haben es uns bewiesen. Der Mönch hingegen entscheidet sich dafür, den gewöhnlichen Mitteln den Rücken zu kehren. Er glaubt, dass sein gesamtes Leben und nicht nur sein Gebet eine überirdische Wirksamkeit entfaltet. Würde er ohne diese Überzeugung von „Fürbitten“ sprechen, die sich im Verborgenen fruchtbar auf seine Zeitgenossen auswirken? Wir übernehmen Verantwortung allein aufgrund der Tatsache, dass wir an wahren Grundsätzen festhalten und in Einklang mit diesen leben. Dieses Bemühen hat seinen Preis und ruft häufig lebhaften Widerspruch hervor. Auch wenn das Anwendungsfeld dieser Verantwortung begrenzt erscheint, mindern diese Grenzen in keinster Weise den Einfluss. Andere „Dissidenten“ haben sich den Auswirkungen der Krise der Gesellschaft und ihren Folgen auf das religiöse Leben im christlichen Abendland entgegengestellt und tun dies immer noch. Wer es versteht, die wahren Herausforderungen zu erkennen und zu analysieren, wer es versteht, einzig mit dem Ziel auf sie einzuwirken, die Würde seines eigenen Lebens, und wäre es auch nur um seiner selbst willen, wieder herzustellen, der wirkt wie ein Hebel auf das Schicksal anderer ein, die weniger gut in der Lage sind zu reagieren. Ob diese Zeugnisse der Aufrichtigkeit nun gehört werden oder stumm bleiben, ändert nichts an ihrer Wirksamkeit.

Wir haben unlängst den dreißigsten Todestag von Pater Hieronymus begangen. Als er im Jahr 1942 von den Priestern, die in den Gästetrakt kamen, von der Vernichtung der Juden durch die Nazis erfuhr, war er wie vom Donner gerührt. Er war damals fünfunddreißig und in diesem Alter steckt der Mensch voller Kraft und Leidenschaft. Er sagte sich: „Du bist hier, und zur gleichen Zeit leiden Männer und Frauen deines Alters und sterben einen grauenvollen Tod.“ Nach der Komplet suchte er einen alten Pater auf, zu dem er Vertrauen hatte. Dieser hörte ihm zu, verharrte lange in Schweigen und sagte dann: „Aber führen Sie hier währenddessen ein vergnügliches Leben? Tanzen Sie? Lassen Sie es sich hier gut gehen, während alle anderen leiden? Also bleiben Sie ruhig vor Gott. Wenn Sie hier mit normalem Eifer, ohne sich selbst zurückzunehmen, ihr klösterliches Leben führen und den Anforderungen Ihrer Berufung gerecht werden, können Sie ruhig sein. Gott wird Ihnen keinen Vorwurf machen, und Ihr Gewissen ebenfalls nicht.“ Wir wünschen uns, dass unsere Haltung von seinem Vorbild inspiriert wird.

Und Ihre Haltung? Der Novizenmeister von Sept-Fons, den ich einmal zur Natur der Armut befragt hatte, gab mir Folgendes zur Antwort: „Dass wir uns in Armut üben, ist die unumstößlichste Praxis unserer einzigartigen Berufung. Für die Jesuiten ist dies das Gelübde des unbedingten Gehorsams gegenüber dem Papst, für die Franziskaner ist dies, den Vögeln zu predigen, und für uns beruht der Gottesdienst auf dem persönlichen Gebet und einer strengen Klausur. Etwas überspitzt, doch es trifft genau den Kern.“ In diesem Sinn muss jeder von uns in sich gehen und handeln. Als Anregung möchte ich Ihnen ein Überlegung ans Herz legen, die ich einem Werk von Chantal Delsol entnommen habe: „Erinnere Dich an die Zukunft! (vgl. Dtn 25,17-19) [...] Du sollst nicht vergessen, dass die Fortsetzung der Geschichte in Deinen Händen liegt: Lasse nicht nach! Halte Deine Versprechen! Sei Dir selbst treu! „Nie wieder!“ sagt die zeitgenössische Vulgata nach dem 20. Jahrhundert und dem Holocaust, was bedeutet: Du sollst nicht vergessen, dass Du nicht dem Schicksal unterworfen bist. Es hängt von Dir ab, dass sich das Gleiche nicht noch einmal wiederholt. Schlafe nicht, sondern wache, denn die Geschichte trägt Deinen Namen.“

Der Pater Prior von Sept-Fons und Bruder Aloïs sind soeben nach Venezuela aufgebrochen, wo sie drei Monate bei den Brüdern des Trappistenklosters von Los Andes weilen werden. Pater Sébastien aus Sept-Fons und unser Prior kommen aus dem Senegal zurück. Bruder Procope ist gerade nach Asien geflogen, in ein anderes Kloster, das äußerst schwierigen Bedingungen unterworfen ist. Begleiten Sie sie mit Ihrem Gebet. Wenn Sie uns unterstützen, unterstützen Sie zugleich diese Klöster. Dieses Mal wollen wir nicht von unseren Baustellen sprechen. Nicht, dass es keine gäbe, aber es ist nicht sinnvoll, immer wieder auf dieses Thema zu sprechen zu kommen. Ich danke Ihnen für Ihre treue Unterstützung. Zählen Sie auf unser Gebet.

Pater Hieronymus ist während der Amtszeit von Dom Jean-Baptiste Chautard in das Trappistenkloster von Sept-Fons eingetreten, unmittelbar nachdem er mit einundzwanzig Jahren seinen Abschluss als Agraringenieur gemacht hatte. Er war Schweizer Staatsbürger und wurde im Jahr 1907 auf der Insel Rhodos geboren. Sein Vater war katholisch und seine niederländische Mutter war protestantisch. Außer zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verließ er nur selten sein Kloster, wo er von 1928 bis zu seinem Tod am 29. Januar 1985 lebte. Ein Leben in Stille und Gebet, in Handarbeit und Studium, ein Leben in Treue.

Doch dieser feinsinnige, zurückhaltende Intellektuelle hat in seiner Gemeinschaft eine herausragende Rolle gespielt, ohne dies jemals angestrebt zu haben. Durch seine schlichte Anwesenheit hat er kostspielige Abrutschen vermieden und einen neuen Aufschwung eingeleitet, zu einer Zeit, als scheinbar alles in Frage gestellt wurde. Er hat dem Kloster eine Vielzahl geistiger Erben hinterlassen, denen wir die Veröffentlichung seiner Schriften verdanken. Diese wurden selbst in den Kreisen, die offensichtlich kaum dazu bereit waren, diese zu akzeptieren oder zu begreifen, sehr gut aufgenommen.

Gleichzeitig erscheint ein Fotoband mit dem Titel Portrait im Verlag Ad Solem.

Die auf Kirchengeschichte spezialisierte Historikerin Anne Bernet hat zahlreiche Werke verfasst, die in über zehn Sprachen übersetzt wurden. Sie setzt gekonnt großes Wissen, umfangreiches Informationsmaterial und Stil ein, ohne je in eine romanhafte Erzählweise zu verfallen.

CHARLIE sein oder nicht sein Unmittelbar nach den Ereignissen, die uns alle erschüttert haben, habe ich zu den Brüdern in Nový Dvůr Folgendes gesagt: Ich wäre CHARLIE, wenn all jene, die jetzt auf die Straße gehen, vor einigen Monaten erklärt hätten, CHRISTEN DES IRAK zu sein. Wenn die fünfzig Staatschefs, die nach Paris gekommen sind, um die freie Meinungsäußerung zu verteidigen, zunächst nach China gereist wären, um diese auch in Hongkong und auf dem chinesischen Festland zu verteidigen. Wenn die Medien den zweitausend in Afrika abgeschlachteten Opfern die gleiche Aufmerksamkeit entgegenbringen würden wie den zwanzig Opfern in Europa. Wenn der Planet, der von der Verzweiflung der Industrienationen erschüttert wird, sich auch mit der Verzweiflung der jungen Menschen befassen würde, die Gefahr laufen, zu Terroristen zu werden... Ich bin CHARLIE gegen blinde Gewalt, vor allem, wenn sie vorgibt, sich auf Gott zu berufen. Sie ist es ohne es zu sein. Ich glaube, dass jeder Mensch für seine Taten verantwortlich ist, dass die Grenze zwischen Gut und Böse durch die Herzen von Tätern und Opfern verläuft, dass diese beruhigende Bewegung brüderlicher Solidarität die eigentlichen Probleme nicht löst, aber dennoch hilft, die richtige Frage zu stellen: Was haben wir getan, dass es so weit kommen konnte?

Fr. M. Samuel, Abt von Nový Dvůr


7. Dezember 1961-1989-2014, 25. Todestag von Bruder Theophan
Vierter Brief des Novizenmeisters von Sept-Fons an P. Lev, Novizenmeister von Nový Dvůr


2. September 2014
Herbst 2013
5 Juli 2013
Wenige Wochen vor Weihnachten 2012 
Feier der Kirchweihe von Nový Dvůr am 2. September 2012
Pfingsten 2012
11. Januar 2012
30. September 2011, Namenstag des Heiligen Hieronymus
1. Mai 2011
2. September 2010
Mai 2010
Den 29. Januar 2010
Pfingsten 2009
Fasten 2009
Mai 2008
Den 2. Februar 2008
Den 2. September 2007
Den 5. Juli 2007
2. September 2006
Mariä Verkündigung 2006
2. Februar 2006
September 2005